Flucht aus Buchwalde

(aufgeschrieben von Günter Graff)

Unsere Familie, Vater, Mutter und sieben Kinder wohnte in Buchwalde. Unsere Flucht begann am 23. Januar 1945 bei hohem Schnee und 20 Grad Frost.
Mutter hatte am Tag vorher mehrere Brote gebacken und in der Nacht die Zuchtgänse geschlachtet. Der Fluchtwagen war bereits zu Weihnachten vorbereitet worden. Ich, gerade erst 16 Jahre alt geworden, musste die Pferde und den Wagen lenken. Meine sechs Geschwister im Alter von 9 Monaten bis 15 Jahre und Mutter saßen mit auf dem Wagen. Zusammen mit mehreren Nachbarn fuhren wir zügig bis Stuhm. In den ersten fünf Tagen und Nächten kam der Treck ca 80 km voran.

Bei Dirschau ging es über die Weichsel. Militärkolonnen drängten uns zur Seite. Nach fünf Tagen kamen wir in Pr. Stargard an. Man sagte uns, dass wir bald wieder nach Hause können, und so hielten wir uns dort auf einem Gutshof mehrere Tage auf. Menschen und Pferde brauchten eine Verschnaufpause.
Aber die Angst, vom Russen eingeholt zu werden, verfolgte uns. Die schrecklichen Berichte über das, was die Russen in Ostpreußen mit der Zivilbevölkerung angestellt hatten, ließ uns nicht kalt. Erneut brach der Treck auf, und wieder begann der Wettlauf mit der Front, die ständig näher kam. Das Donnern der Kanonen wurde immer lauter.

Mühsam ging es voran über Schlawe, Köslin, Stolp nach Kolberg. Die Russen griffen erst mit Flugzeugen, dann mit Panzern an und beschossen die Flüchtlingstrecks. Oft mussten wir alles stehen lassen und rannten übers Feld, um in Deckung zu gehen. Wenn der Beschuss nachließ, hatten wir Not, unsere Pferde und Wagen wiederzufinden. So erreichten wir Kolberg, das aber ständig vom Russen angegriffen wurde.
Nachts versuchten wir auf dem Kolberger Friedhof hinter Hecken und Sträuchern etwas zu schlafen. Total übermüdet legte ich mich in eine Hecke. Später sagte mir ein Nachbar, dass ich auf einem toten Landser geschlafen hätte.
Voller Angst fuhren wir auf unwegsamen Straßen weiter. Kanonendonner begleitete uns. Von See her mischten sich die Geschützsalven der deutschen Kriegsschiffe hinein. Immer wieder schreckten wir zusammen, wenn die heulenden, schnell abgefeuerten Salven der Stalinorgel zu hören waren. Wir erlebten alles wie in einem Alptraum.

Am 7. März hatten wir den kleinen Küstenort Schruptow erreicht. Eine überraschende, wunderbare Stille lag über dem Dorf. Nur fünf Fluchtwagen standen auf der Dorfstraße, drei aus Buchwalde und zwei andere hatten sich uns angeschlossen. Plötzlich hörten wir ein Rappeln und Klappern auf der Dorfstraße. Wie erschraken wir, als 10 bis 12 mongolische Reiter mit nach vorne gerichteten Schnellfeuergewehren hinter die Pferdeköpfe geduckt, ins Dorf sprengten.
10 Erwachsene und 15 Kinder starrten in die vorgehaltenen Mündungen der Maschinenpistolen. In einem Versteck hielten sich russische Zivilarbeiter auf. Nun kamen sie hervor und übernahmen das Dolmetschen. Es begann das üblich Spiel. Uhren, Schmuck und Wertgegenstände wurden uns abgenommen.
Ein junger russischer Soldat stieg vom Pferd und winkte mich aus der Menschenmenge heraus. Bis ich begriff, dass er meine Lederjacke und meine Stiefel wollte, hantierte er ungeduldig mit seiner Pistole herum. Meine Mutter stellte sich vor mich und weinte laut. Hätte meine liebe Mutter nicht so gehandelt, was wäre wohl mit mir geschehen?

Die Russen sagten uns, dass wir uns im Haus aufhalten sollten. Abends würde dann eine russische Besatzung kommen, um uns nach Hause zu schicken.
Am späten Abend kamen dann auch Panzer, Lastwagen und Soldaten, aber es waren deutsche Soldaten. Eine Division, die sich noch im Kessel befand, zog durchs Dorf, um sich freizukämpfen.
Morgens um 4 Uhr schlossen wir uns ihnen an. Gegen Mittag erreichten wir Rewald und abends den Ort Horst direkt am Ostseestrand. Hier musste ich meine Pferde, Lotte und Max, ausspannen. Weinend nahm ich von ihnen Abschied. Was ist wohl aus ihnen geworden?
Jeder nahm noch etwas vom Wagen und dann ging es zum Strand. Ich war völlig entkräftet mit angefrorenen Zehen und Ohren. Von Soldaten hatte ich Krücken bekommen. Meine Mutter hatte den kleinen Säugling im Arm und links und rechts die kleinen Geschwister. So schleppten wir uns die ganze Nacht am Strand entlang. Oben auf dem Steilhang saßen russische Scharfschützen.

Das Erlebte, die Ängste und die Strapazen dieser Nacht sind mit Worten nicht zu beschreiben. Gegen Morgen erreichten wir den Seeflughafen Dievenow. Die Flucht aus dem Kessel war im Schutze der Nacht gelungen.
Wir erreichten ein Lazarettschiff. Nach langem Bitten und Betteln der Mütter konnten wir auf das Schiff. Es steuerte mit den Verwundeten auf die Ostsee und wurde von feindlichen Bombern angegriffen, aber nicht getroffen. Gegen Abend legte das Schiff in Ueckermünde an. Per Eisenbahn ging es nun weiter nach Bederkesa bei Bremerhaven. Hier wurden die Flüchtlingsfamilien von Bauern abgeholt und auf verschiedene Höfe verteilt.

Am 16. März 1945 endete unsere Flucht. Wir brauchten noch Wochen, um uns von den Strapazen zu erholen. Vater war noch in Gefangenschaft, kam aber bereits im Juli zu uns.